Lagemerkmal Seesicht

Thorsten Peters

Der Gemeinsame Gutachterausschuss Überlinger See legt die Bodenrichtwerte in Überlingen fest. Sie sind die Grundlage für die Berechnung der Grundsteuer. Man kann die Bodenrichtwerte im Internet auf BORIS-BW einsehen. Dabei überrascht es, dass für einige Gebiete zwei stark voneinander abweichende Werte angegeben sind: Brünnensbach, Goldbach, Überlingen West, Weinbergstraße, Mozartstraße, Rehmenhalde. Der Grund dafür ist das Lagemerkmal Seesicht: Hat ein Grundstück Seesicht, ist für den Bodenrichtwert der deutlich höhere Quadratmeterpreis anzusetzen. Für die Grundstücke nordwestlich der Parkanlage Schloss Rauenstein wären das dann beispielsweise 2.000 Euro statt 1.100 Euro ‒ fast das Doppelte!

Doch was heißt Seesicht genau? Habe ich Seesicht, wenn ich aus dem Klofenster zwischen zwei andere Häuser hindurch einen schmalen Streifen vom Bodensee erblicken kann? Oder wenn ich meinen Kopf durch die Dachluke strecke und knapp über die Dächer der davor liegenden Häuser auf den Hafen von Wallhausen gucken kann?

Das wollte ich von der Stadtverwaltung wissen. Auf diese Frage war ich gestoßen, als ich darauf aufmerksam wurde, dass das zukünftige Baugrundstück im Landschaftspark St. Leonhard zum niedrigeren Bodenrichtwert angeboten wurde, obwohl die oberen Stockwerke des geplanten Gebäudes voraussichtlich freie Sicht auf den Bodensee haben. Die Antwort der Stadtverwaltung bezogen auf dieses Grundstück lautete, dass für den höheren Bodenrichtwert Seesicht bereits aus dem Erdgeschoss gegeben sein müsse. Wenn Seesicht aber nur aus oberen Geschossen besteht, handele es sich um ein Grundstück mit Teilseesicht, bei dem häufig der Mittelwert zwischen den beiden Lagemerkmalen mit und ohne Seesicht angesetzt werde.

Merkwürdig. Im Rahmen der Grundsteuerreform mussten doch die Grundstückseigentümer dem Finanzamt ihren jeweiligen Bodenrichtwert mitteilen. Haben sie demnach bei Teilseesicht selbst den Mittelwert aus den beiden angegebenen Bodenrichtwerten bestimmt? Das kann ich mir nicht vorstellen. Daher erkundigte ich mich bei der Stadtverwaltung nach dem Wortlaut der formellen Definition des Lagemerkmals Seesicht wie sie bei der Grundsteuererklärung für das Finanzamt anzuwenden ist.

Die erstaunliche Antwort: Es gibt keinen genauen Wortlaut.

Eine gute Nachricht für alle Grundstückseigentümer, die beim Finanzamt den höheren Bodenrichtwert angegeben haben! Korrigiert eure Grundsteuererklärung, nehmt den kleineren Bodenrichtwert und sagt, dass das Grundstück keine Seesicht hat! Die Begründung dafür könnt ihr beliebig wählen, sei es dass der See nach Norden raus nicht zu sehen ist oder dass man vom Kellerfenster aus keinen Blick auf ihn hat. Das Finanzamt hat ohne formelle Definition des Lagemerkmals Seesicht durch den Gutachterausschuss keine Handhabe, das Gegenteil nachzuweisen.

Am 10. Januar hat die Stadtverwaltung knapp zehntausend Grundsteuerbescheide verschickt. Die Frist für den Widerspruch endet am 14. Februar.

Nicht vergessen: Am 23. Februar die AfD wählen, denn die schafft die Grundsteuer komplett ab.


Nachtrag

29. Januar 2025

Mein Tipp, die Grundsteuererklärung zu korrigieren, kommt leider viel zu spät. Im Gegensatz zu anderen Steuererklärungen, lässt sich ein „versehentlich“ falsch angegebener Bodenrichtwert inzwischen nicht mehr korrigieren. Wer also den höheren Wert mit dem Lagemerkmal Seesicht gewählt hat, weil er nicht ahnte, dass er einfach auch den niedrigeren Wert hätte nehmen können, bleibt jetzt auf seiner höheren Grundsteuer sitzen.

Einzige Möglichkeit wäre, eine gebührenpflichtige individuelle Grundstücksbewertung beim Gutachterausschuss zu beantragen, bei der allerdings ein um mehr als 30 Prozent niedrigerer Grundstückswert herauskommen müsste, damit die Grundsteuer angepasst wird (§ 38 Absatz 4 LGrStG). Die Bodenrichtwerte nach BORIS-BW spielen dabei keine Rolle mehr.

Herzlichen Glückwunsch allen, die trotz bester Sicht auf den See frecherweise den niedrigeren Bodenrichtwert angegeben hatten!